Verlagertes Wissen

Heute beim Early-Bird-Kaffee und offener Terrassentür lauschte ich einem wunderhübschen Vogelkonzert. Und dachte dann darüber nach, wie und wohin sich das Allgemeinwissen verlagert hat.
Wer kann schon noch auf Anhieb sagen, welcher Vogel da gerade sein bestes Ständchen gibt? Amsel – okay, die ist einfach. Meise auch. Den markanten Buchfink vielleicht noch, wenn man denn mal einen hört. Aber dann wird’s schon dünne.

Hat sich unser Wissen von der Natur hin zur Technik verlagert? Andererseits frage ich mich oft: Was soll ich denn eigentlich noch alles können und wissen?

Ein paar Beispiele aus meiner Selbständigkeit:
Das Video-Schnittprogramm, das Bild-Erstellungsprogramm, die Buchhaltung, Zoom, mein Webseiten-CMS, diverse Social-Media-Plattformen im Hintergrund (mit Beiträge planen, nur für bestimmte Personen sichtbar, verschiedenen Bildformaten etc.), Youtube-Videos (Ringlicht, Mikro, Kamera, Hintergrund …), Landing-Pages eventuell mit Verknüpfung zum Bezahlanbieter, dafür sorgen, dass die Sachen auch heruntergeladen werden können, der Newsletter mit dem entsprechenden Anbieterprogramm – und „nebenbei“ noch meine eigentliche Arbeit. Und das sind jetzt nur die Punkte, die mir auf Anhieb einfallen.

Auch dieses Blog hier – fast ganz selbstverständlich die Seite aufrufen und das Blog neu einrichten. Aber wer hat es mir beigebracht? „Beibringen“ ist wohl auch der falsche Ausdruck. Es ist eher ein mehr oder weniger intuitives Erkennen, was die Seite jetzt von mir möchte. Kann auf Anhieb klappen, kann aber auch frustrierend werden.

Warum und woher soll ich bitte wissen, wie ich mein „altes Handy“ auf mein „neues Handy“ umziehe? Zum Glück habe ich den Mann im Haus, der Technik im Blut hat. Aber ich meine: Wer bringt uns sowas bei? Wir uns selbst … wir machen es einfach irgendwann mal irgendwie.

Dafür können wir keine Bäume mehr erkennen (die Birke ist der mit dem weißen Stamm!), wissen nicht mehr, welches Gemüse gerade Saison hat und wie wir Maiglöckchen von Bärlauch unterscheiden. Oder ob die im Wald gesammelten Pilze eventuell ungesund sein könnten.

Gleichzeitig gehen viele Menschen davon aus, dass jeder alles kann und selber macht. Von gelb-blauen Möbeln aufbauen bis W-LAN-Router einrichten. „Du musst den Router neu konfigurieren!“ Bitte was? Bin ich hier auf der Voyager?

Oder auch das schöne Beispiel mit der Grundsteuer bzw. der Neuberechnung. Selbst ich einigermaßen formular-affiner Mensch mit Internetkenntnissen habe zusammen mit meinem Schwiegervater (unbezahlbare Insider-Kenntnisse) über zwei Stunden gebraucht, um das hinzufrickeln und auf „absenden“ zu drücken. Was macht ein 80jähriger Mensch, der halt sein Häuschen hat oder vielleicht noch vermietete Wohnungen und wo ein Konstrukt einfach über Jahre gewachsen ist und sich nicht in eine Zeile in einem Online-Formular pressen lässt? Wowie findet so jemand sich überhaupt online zurecht? Weiß so jemand, an wen er sich wenden kann oder ob es eine „offline“-Möglichkeit gibt?

Das Wissen, das für unsere Altvorderen noch wichtig war und das sie weitergeben konnten, ist heute fast komplett obsolet. Das Verhältnis hat sich umgekehrt – die Jungen wissen mehr und bringen den Alten was bei.
Und: Wissen veraltet heute so schnell wie nie zuvor. Was gestern noch State Of The Art war, ist heute schon von neuen Erkenntnissen überholt.

Woher kommt nur dieses Gefühl, ständig überfordert zu sein und nicht mehr zur Ruhe zu kommen, hm? Ich habe da so einen leisen Verdacht …

Lauschen Sie mal wieder einem Vogelkonzert. Ohne Erkennungs-Apps!
Ihre Frau Dancer

(Buchfink aus der Bilderdatenbank)

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